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Landleben

Der einzige «Spazzacamino» im Puschlav

Michele Dorsa ist der einzige Kaminfeger im Puschlav (GR). Zwischen Ospizio Bernina auf 2253 m und Campocologno gehören 2000 Häuser und 1200 Maiensässe mit über 4000 Kaminen zu seinem Arbeitsgebiet. Wie sieht sein Alltag aus?

Über den Dächern des Wakker-Dorfes Poschiavo: Der Kaminfegermitarbeiter Luca Tuena bei der Arbeit auf dem Hausdach, um von dort aus den Kamin zu kehren.

Über den Dächern des Wakker-Dorfes Poschiavo: Der Kaminfegermitarbeiter Luca Tuena bei der Arbeit auf dem Hausdach, um von dort aus den Kamin zu kehren.

(Urs Oskar Keller)

Publiziert am

Journalist und Fotograf BR

Vor der Einfahrt eines alten Bauernhauses an der Sotsassa 11 des früheren Frauenklosters am Rande des Dorfes Poschiavo im Puschlav hält am Vormittag der Geschäftswagen von «Spazzacamino» Michele Dorsa. Kaminfegermeister Dorsa und sein Mitarbeiter Luca Tuena steigen aus. Der graue Kleinbus ist beladen mit Staubsaugern, Abdecktüchern, langen Fiberglasruten sowie diversen ringförmigen Stahlbürsten und -ruten.

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Der graue Transporter von Michele Dorsa ist im Puschlav wohlbekannt.

(Urs Oskar Keller)

«Mir gefällt es, auf dem Lande zu arbeiten. Ich kenne die Leute und die Dörfer wie meine eigene Hosentasche», sagt Michele Dorsa in Deutsch mit italienischem Akzent. «Es gibt Tage, da rufen mich ältere Menschen wegen einer Kleinigkeit an. Was sie eigentlich möchten, ist, mit mir reden.» Der gelernte Schreiner machte in den 1990er-Jahren eine Kaminfegerlehre in Ascona (TI) und kam später wieder in sein Heimatdorf Brusio zurück. Warum? «Als Schreiner hatte ich viel zu viel Stress. Jetzt bin ich glücklich als Kaminfeger.» Zwanzig Jahre lang war er im Betrieb von Kaminfegermeister Getullio Crameri in San Carlo (Poschiavo) angestellt und für über 4000 Kamine und Anlagen vom Ospizio Bernina (2253 m ü. M.) bis nach Campocologno mitverantwortlich. Rund 1100 Kamine reinigen er und sein Mitarbeiter pro Jahr. Vor acht Jahren konnte er Crameris Betrieb übernehmen.

Michele Dorsa, der einzige Kaminfeger im Bündner Südtal, hat immer viel zu tun. Er reinigt Kamine auf dem Dach, misst Heizungswerte im Keller und begutachtet Feuerstätten in den Wohnungen seiner Region.

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Fototermin mit dem Kaminfegerduo in Poschiavo: Kaminfegermeister Michele Dorsa (56, rechts) zusammen mit seinem Mitarbeiter Luca Tuena (33).

(Urs Oskar Keller)

Reinigung mit Fingerspitzengefühl

Der 56-jährige Kaminfegermeister Dorsa reinigt heute zusammen mit Luca Tuena (33), der ebenfalls früher Schreiner war, einen alten Zylinderofen (stufa a tamburo). Um sieben Uhr führten sie in Brusio bei Ölund Gasheizungsanlagen Kohlenmonoxidund Stickoxyd-Messungen durch. Mitarbeiter Tuena legt vor einem anderen Holzofen im Untergeschoss sorgfältig Stofftücher aus und klebt die Ofenöffnungen mit Klebeband ab. Danach steigt er durch eine Fensterluke auf das mit Schiefer gedeckte Dach, um von dort aus den Kamin zu kehren. Er stösst behände die Eisenrute mit Bürste an einem langen Seil am Kamin langsam bis in den Keller hinunter. «Da muss man behutsam sein und alles zweimal wiederholen», sagt sein Chef Dorsa. «Wenn ich den Besen zu schnell runterlasse, staubt beim hohen Puschlaver Eisenzylinderofen in der mit Tannenholz verkleideten Bauernstube der Russ heraus.» Plötzlich stoppt die Eisenrute. Sie ist unten angekommen. Der Kaminfeger holt die Kehranlage wieder ein, zieht den struppigen Besen aus dem Kamin. Eine Schieberöffnung ist für die Luftzufuhr zu eng und muss unkompliziert vor Ort angepasst werden.

Kratzeisen, Handbürsten, Staubsauger

Dann kommt Luca Tuena wieder ins Untergeschoss und öffnet weitere gusseiserne Türchen am Kachelofen, hinter dem der Kamin liegt. Das schwarze Pulver, das er mit seinem Besen zuvor von den Kaminwänden gekratzt hat, verschwindet. Sein Kratzeisen und zwei Handbürsten sind um seinen Hosengurt geklemmt. Mit dem grossen Staubsauger gehts sauberer, schneller und gesünder. Mehrere Kilo Russ holt er aus dem Kamin. Mit einer Taschenlampe kontrolliert anschliessend sein Chef den Kamin und den ganzen Kachelofen. Sein Gesicht ist schwarz von Russ.

«Ich bin manchmal auch Ratgeber und Psychologe».

Michele Dorsa, Schornsteinfeger

Je nachdem spiegelt er noch den Schlot. Zuletzt prüft Kaminfegermeister Dorsa das Brennholz (Lärchenholz), das Bewohner und Imker Franco «Joghi» Crameri-Droux (73) für den Zylinderofen, Holzherd und einen Pizzaofen verwendet. Dabei inspiziert er nicht nur das Brennstofflager, sondern beurteilt auch die Asche und rapportiert mögliche Mängel an die Gemeinde. Eine Holzfeuerungskontrolle ist im Kanton Graubünden Pflicht. «Anlage in Ordnung», notiert er auf das amtliche Formular. Nach eineinhalb Stunden packen die beiden ihre Werkzeuge wieder ein. «Tutto a posto», «alles gut für den kommenden Winter», sagt Michele Dorsa.

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Nichts für Menschen mit Platzangst: Luca Tuena reinigt einen Pizzaofen im Bauernhaus von Franco Cramer.

(Urs Oskar Keller)

Er schreibt noch einen Rapport für die Kantonale Gebäudeversicherung. Franco Crameri, der seit 25 Jahren das historische und stattliche Bauernhaus bewohnt, bedankt sich und gibt den beiden noch ein Trinkgeld. «Ich bin mit der Arbeit immer sehr zufrieden und habe sie auch zum Pizza-Essen im Haus eingeladen».

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 «Ich bin mit der Arbeit immer sehr zufrieden und habe sie auch zum Pizza-Essen im Haus eingeladen»

(Urs Oskar Keller)

Auch Ratgeber und Psychologe

Sie fahren von frühmorgens bis abends zu Kunden und erlösen sie, mal mit leichtem, mal mit schwerem Gerät, vom materiellen Kummer und Schmutz, während sie ihnen ihren seelischen beichten. «Kaminfeger sind kontaktfreudige Leute. Ich bin manchmal auch Ratgeber und Psychologe», sagt Michele Dorsa. Seit vier Stunden sind die beiden Kaminfeger mittlerweile unterwegs – der arbeitsreiche Tag geht aber erst gegen Abend zu Ende. Wie jeden Tag arbeiten die «Spazzacamini» oder Schornsteinfeger – früher auch Schlot- und Winkelfeger, Rauchfang- und Kaminkehrer genannt – bis 17 Uhr, acht Stunden pro Tag. An einem normalen Arbeitstag besucht Dorsa bis fünf Kundinnen und Kunden.

Puschlaver waren zuerst Söldner

Leider gibt es sehr wenig Literatur zum Thema Kaminfeger. Daniele Papacella. Historiker und Publizist aus Poschiavo, heute als Fernsehredaktor und Deutsch-schweiz-Korrespondent von Radiotelevisione Svizzera RSI (Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz) in Zürich tätig, sagt: «Es ist nicht so wie im Tessin, dass ganze Dörfer als Spazzacamini tätig waren und nach Mailand ausflogen, um wieder nach Hause zu kommen. Puschlaver waren zuerst Söldner und Schuhmacher, danach Zuckerbäcker. Professionelle Kaminfeger – oft waren sie Veltliner oder reisten sonst von irgendwo her, zum Teil auch aus der Deutschschweiz – kamen wie in der restlichen Schweiz erst nach 1850 mit den ersten feuerpolizeilichen Bestimmungen.» 

Wie war es früher, Kaminfeger zu sein?

Wie war wohl das Leben als Kaminfeger im Puschlav früher? Paola Gianoli (Jahrgang 1963), ist die Tochter des Kaminfegermeisters Luigi Gianoli (1921 – 1998) aus Poschiavo. Paola Gianoli: «Er war als Bauer und als selbstständig erwerbender Kaminfeger tätig. Vater arbeitete als Kaminfeger mehrheitlich vom späten Herbst bis in den Frühling, damit er dann die restliche Zeit und den Sommer der Landwirtschaft widmen konnte. Das hiess: Sehr früh aufstehen, um die Kühe zu melken, und nach der Rückkehr von der Arbeit als Kaminfeger ging es dann sofort wieder im Stall weiter. Mein Vater hatte zwar schon einen Staubsauger, aber die Anlagen waren bestimmt anders als heute und darum die Arbeit sicher ziemlich anders. Wie Michele Dorsa war er auch ‹Psychologe›, nicht selten bei der Arbeit hat er auch schwierige Situationen erlebt und Leuten geholfen. Ich hatte das Gefühl, mein Vater sei für ewig Kaminfeger. Und ein bisschen wurde es auch so: Er war bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr als Kaminfeger tätig.»

Die schwarzen Brüder

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts vermieteten Arbeiter und Bauern aus den verarmten Tessiner Tälern ihre 5- bis 15-jährigen Kinder aus wirtschaftlicher Not als «lebende Kaminbesen» in die Industriestädte des Piemonts und der Lombardei. Das Buch «Die Schwarzen Brüder» erschien 1941 und erzählt die auf Tatsachen beruhende Geschichte des kleinen Giorgio aus Sonogno im Tessiner Verzascatal.

Der Jugendroman wurde von Lisa Tetzner zwar begonnen, aber von ihrem Mann, dem Schriftsteller Kurt Held (eigentlich Kurt Kläber), zu Ende geschrieben. Weil es ihm als politischem Flüchtling nicht erlaubt war, in der Schweiz zu publizieren, wurde das Buch unter dem Namen seiner Frau veröffentlicht. Kurt Held schrieb später den Jugendbuchklassiker «Die Rote Zora und ihre Bande».

 

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