Die Kastanie ernährte einst ganze Familien im Puschlav (GR). Mit wachsendem Wohlstand geriet sie in Vergessenheit – bis vor rund 30 Jahren die Besitzerinnen und Besitzer der Bäume beschlossen, die Selven zu retten und zu pflegen. Daraus entstand zuerst die Sagra della Castagna, die im Jahr 2020 zur Settimana della Castagna erweitert wurde.
Tradition und Fest
Im italienischsprachigen Puschlav nennt man heisse Kastanien «Brasché». Während der Kastanienwoche rösten die «Marunat» von Brusio Marroni für alle. Ein Kessel mit dampfenden Esskastanien, Papiertüten und eine Blechschaufel – so werden die Früchte kostenlos verteilt. Sie stammen aus den lokalen Hainen. «Marroni ist eigentlich eine piemontesische Sorte und bei uns nur in kleinen Mengen vorhanden», erklärt Kastanienfachmann Piero Pola.
Die Besitzerinnen und Besitzer führen die Besuchenden durch ihre Kastanienhaine, sogenannte Selven. Seit 2020 bietet Piero Pola zusammen mit seinem Neffen Luca solche Touren im Grenzort Campocologno an, nur wenige Dutzend Meter von der italienischen Grenze entfernt. «Im Dorf gibt es rund 500 Edelkastanienbäume, die 30 Familien gehören. Nur sie dürfen ernten», sagt Pola. Er nimmt sich dafür jeweils Ferien von seiner Arbeit als Direktionsassistent beim «Centro sanitario Valposchiavo», um Marroni zu sammeln und die Kastanienwoche zu organisieren.
Schon seit seiner Jugend in den 1970er-Jahren rösten Pola und seine Familie sie oder machen Suppe und Konfitüre. Piero Pola besitzt und pflegt 30 Kastanienbäume, die alle auf einer Parzelle der Körperschaft Campocologno und Zalende liegen. Charakteristisch sei der Besitz des Waldes, da die Kastanienbäume von Privatpersonen auf öffentlichem Grund gepflanzt wurden, nach dem alten Gesetz des «jus plantandi». «Es ist eher ein Gewohnheitsrecht, kein Gesetz. Ein System, um zwei Notwendigkeiten zu vereinbaren: Weideland für alle und die Kastanienproduktion für Private», sagt Marco Conedera, Forstingenieur für Waldgesundheit und biotische Interaktionen bei der Eidg. Forschungsanstalt WSL in Cadenazzo (TI).
Einst Grundnahrungsmittel
Vor hundert Jahren konsumierte eine sechsköpfige Familie bis zu 900 Kilo Kastanien jährlich. 1991 stellte der Fonds Landschaft Schweiz Geld für die Rettung der Selven bereit. «Dank der glücklichen Idee, die wiederhergestellten Wälder als Forstwälder zu klassifizieren, wurden die Wiederherstellungsmassnahmen zu 70 Prozent aus Forstsubventionen finanziert», berichtet Pola. Zudem zahlte die EU über Interreg III den Gemeinden Tirano und Brusio für die Erhaltung der Selven im Zeitraum 2000 – 2006 insgesamt 203 000 Euro. Die Schweizer Beteiligung an den Interreg-Programmen übernahm der Bund. Heute gibt es zudem Biodiversitätsbeiträge.
Neben der finanziellen Unterstützung spielten auch Krankheiten eine Rolle zum Überleben der Haine. Der Kastanienrindenkrebs, die Tintenkrankheit oder die Gallwespe bedrohten vor einigen Jahren die Bestände. Dank biologischer Bekämpfung und natürlicher Gegenspieler haben sich die Wälder teils erholt. «Alle Edelkastanien sind automatisch biologisch, da sie im Wald wachsen», betont Pola. Gepflegte Bäume können sehr alt werden, in Brusio hat es Exemplare, die um die 150 Jahre alt sind, aber im Tessin oder Misox findet man Bäume, die zwischen 300 bis zu fast 500 Jahre erreichen. Die Ernte beginnt Ende September und dauert bis Oktober. Pflegearbeiten umfassen Grasmähen, das Entfernen von Laub und Sprossen, das Schneiden von Ästen sowie die Reparatur der Trockenmauern.
Obwohl die Bäume oft auf Gemeinschaftsgrund stehen, sind sie Privateigentum. Tafeln weisen darauf hin. «Mundraub gibt es, aber keine grossen Mengen», sagt Pola. Die ursprüngliche Idee des «Mundraubs» war, Menschen in Not, die beispielsweise aus Hunger etwas Obst oder Gemüse stahlen, nicht mit schweren Dieben gleichzusetzen. Heute erlauben Projekte wie «Frutti per tutti» in bestimmten Zonen das freie Pflücken.
Extrem delikate Frucht
Die Edelkastanie, auch Esskastanie (Castanea sativa Mill.) hat sehr delikate und leicht verderbliche Früchte: Sie vertrocknen rasch und werden häufig von Schimmelpilzen und Insekten befallen. Die Rosskastanie, die früher viele Schweizer Strassen und Wege zierte, ist mit der Edelkastanie übrigens nicht verwandt. Sie trägt nur denselben Namen, weil die Frucht ähnlich aussieht.
Wohl keine andere Baumart kann so vielseitig genutzt werden wie die Edelkastanie. Wo diese wuchs, liess sich der Mensch nieder. Zog er weiter, brachte er neben der Weinrebe auch die Kastanie mit. Das Holz lieferte zudem die für den Weinbau benötigten Rebenstickel.
«In der italienischen Schweiz sind derzeit noch etwa fünfzig Sorten Edelkastanien vorhanden, in der Gemeinde Brusio ein halbes Dutzend. Drei bis vier davon sind bedeutend: Tempurivi, Tudisci, Castegni dai Pirenei und Marun. Ich selbst habe alle diese Sorten», erklärt Piero Pola.
Zukunft der Kastanie
2025 wird in Puschlav eine reiche Ernte, die schätzungsweise rund um 2000 Kilo erreichen könnte. Restaurants im Tal bieten während der Kastanienwoche Menüs mit Marroni an. Wer künftig die Ernte einbringt, ist allerdings offen. Bisher liefern Privatpersonen, in guten Jahren, bis zu zwei Tonnen pro Herbst an die Sammelstelle in Campascio. Fachleute sehen aber ein weit grösseres Potenzial. «Die Zukunft hängt davon ab, ob junge Menschen bereit sind, die Tradition fortzuführen – und vom Klima», sagt Piero Pola.
Direktzahlungen für Selven in Graubünden
Die Selven werden in zwei Kategorien eingeteilt: als Dauerkultur (Code 0720) und als Mähwiese (0411). Bei den Dauerkultur-Selven sind 35 Hektaren, gesamt etwa 1000 Bäume, in Graubünden gelistet. Sie werden vor allem beweidet. Je nach Standort werden pro Hektare zwischen 2700 und 3600 Franken an Direktzahlungen entrichtet. Die Förderung pro Baum beträgt 13.50 Franken.
Selven, welche als Mähwiesen genutzt werden, fallen unter die extensiven Flächen und die Zahlen können nur geschätzt werden. Demzufolge sind es etwa 30 Hektaren. Die Beiträge sind hier gleich hoch bis etwas höher (3500 bis 4500 Franken je Hektare (inklusive Biodiversitätsförderbeiträge). Die Förderung pro Baum beträgt 36.50 Franken. Neupflanzungen werden nicht unterstützt.
Quelle: Amt für Landwirtschaft und Geoinformation, Chur