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Landleben

Die Mistelernte ist ein Job für den Winter

Einst galt sie als heilige Pflanze der Druiden, heute sorgt sie für Sorgenfalten bei Obstbäuerinnen und Obstbauern. Die Mistel erobert die Schweizer Bäume – zwischen Mythos, Medizin und ökologischer Realität.

Schon Mitte des 16. Jahrhunderts gab es in der Schweiz Massnahmen gegen die Mistel.

Schon Mitte des 16. Jahrhunderts gab es in der Schweiz Massnahmen gegen die Mistel.

(Ruth Bossert)

Publiziert am

freie Journalistin

Tiefblauer Himmel, die Sonne wärmt. Obwohl die Berge ringsum vom ersten Schnee überzuckert sind, denkt kaum jemand an Adventsdekoration. Nur Daniel Lenherr und zwei seiner Angestellten sind schon mittendrin. In Gams stehen sie an diesem Nachmittag vor mächtigen Pappeln, in deren Kronen dichte grüne Kugeln hängen – Misteln. Ivan aus Moldawien steht 16 m hoch auf der Hebebühne. Mit ruhiger Hand manövriert er die grosse Baumsäge am langen Stiel, sucht die beste Position, um die Misteln vorsichtig aus den Ästen zu schneiden. Unten am Boden sammelt sein Bruder Vasile die herabgefallenen Zweige, knickt die Äste ohne Beeren ab, verkleinert die kugeligen Büschel und schichtet sie sorgfältig in Plastikkisten. Die beiden Brüder sind seit Jahren in der Schweiz, arbeiten ganzjährig bei Lenherr. Im Sommer reinigen sie für seine Firma Solaranlagen für Landwirtschaftsbetriebe, im Winter schneiden sie Misteln. Es ist eine willkommene Abwechslung und eine Arbeit, die Geduld und ein gutes Auge verlangt.

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Die Mistelbeeren enthalten toxische Eiweissstoffe (Viscotoxine) und Lektine.

(Ruth Bossert)

Die Mistel auf dem Vormarsch

Seit über zwei Jahrzehnten breitet sich die Mistel in der Schweiz massiv aus. Sie setzt sich an Ästen und Stämmen verschiedenster Bäume fest. Dies vorwiegend an Pappeln, Apfelbäumen, Birken, Ahorn, Linden, Robinien, Weiden, Ebereschen und Weissdorn. Auch Kiefern, Föhren und Tannen dienen ihr als Wirt. Als Halbschmarotzer entzieht sie ihren Wirtsbäumen Wasser und Nährstoffe, kann aber dank Fotosynthese selbst Kohlenhydrate bilden. Dadurch schwächt sie die Bäume und kann sie im Extremfall absterben lassen. Ihre weissen, leicht durchsichtigen Beeren werden von Misteldrosseln, Mönchsgrasmücken, Seidenschwänzen sowie Sing- und Wacholderdrosseln gefressen und diese hinterlassen ihren klebrigen Kot auf Ästen und Rinden – ideale Keimstellen für neue Misteln.

Gefahr für Obstbäume

«Besonders gefährdet sind Streuobstwiesen», sagt Stefan Freund von der Fachstelle Obstbau am Landwirtschaftlichen Zentrum Flawil. Als eigentlicher Parasit sei die Mistel bei Obstproduzenten unbeliebt und nur konsequentes Herunterschneiden verhindere ihre Ausbreitung. Auch David Szalatnay vom Strickhof warnt, dass sich Misteln massiv vermehren, wenn die Baumpflege vernachlässigt werde. Da hohe Lohnkosten und tiefe Preise für Mostobst viele Produzierende abschrecken, bleibe der Rückschnitt oft aus. Marlis Nölly, Obstbauberaterin am Arenenberg, rät, Misteln bereits im Jungstadium zu entfernen, bevor sie in die Rinde und in dickere Äste einwachsen. Die Klimaerwärmung spielt dabei laut den Fachleuten eine untergeordnete Rolle.

Für gesunde Waldbäume sind Misteln kein Problem.

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Der Durchmesser reifer Misteln beträgt gewöhnlich 0,5–1 m, in Einzelfällen bis zu 1,5 m auf wuchskräftigen Wirtsbäumen.

(Ruth Bossert)

Mehr Misteln in den Bergen

In den Walliser Waldföhrenwäldern lag die obere Verbreitungsgrenze früher bei rund 1000 m ü. M., während die Mistel heute bereits bis auf 1250 m vorgedrungen ist, berichtet Dominik Brantschen von Wald-Schweiz. Für gesunde Waldbäume sei sie jedoch kein Problem. Im Wallis komme jedoch Wassermangel hinzu, was in Kombination mit Mistelbefall zum Absterben führen könne. Beate Kittl von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL verweist zudem auf australische Studien: Dort gilt die Mistel als Schlüsselart für die Biodiversität. Nach dem Entfernen von Misteln ging in Langzeitstudien bis zu einem Drittel der Vogelarten verloren. In Melbourne werden Misteln deshalb heute aktiv wieder angesiedelt.

Heilkraut mit Geschichte

Seit Jahrhunderten werden der Mistel Heilkräfte zugeschrieben. Hildegard von Bingen empfahl sie bei Leberleiden, Bluthochdruck und Arteriosklerose. Heute finden Mistelpräparate vor allem in der anthroposophischen Medizin Anwendung, oft begleitend zu konventionellen Behandlungen, in der Krebstherapie. Für Germanen, Griechen und Kelten war die Mistel ein göttliches Zeichen – sie wächst «zwischen Himmel und Erde» und galt als magisch. Im Mittelalter hängte man Mistelzweige an Türen, um böse Geister fernzuhalten, während die Germanen sie als Glücksbringer verehrten. In der griechischen Mythologie öffnete sie gar den Weg zur Unterwelt. 

Interview

«Misteln sind für mich weit mehr als Schmarotzerpflanzen» 

Für Daniel Lenherr ist die Mistelarbeit die perfekte Winterbeschäftigung. Er führt ein Unternehmen, bietet Spezialreinigungen an und kann mit seinem Team und vorhandenen Geräten die Wintermonate ideal überbrücken.

Daniel Lenherr, wie kamen Sie auf die Idee, Misteln zu schneiden und zu vermarkten?

Meine Geschichte mit den Misteln begann im Jahr 2000, kurz nach meinem Abschluss an der landwirtschaftlichen Schule. In einem Blumenladen sah ich eine Mistel und erschrak über deren stolzen Preis. Damals kannte ich sie nur als Schmarotzer hoch oben in den Bäumen. Das war der Beginn einer bis heute andauernden Leidenschaft.

Wie kommen Sie an die Misteln?

Wir sind hauptsächlich im St. Galler Rheintal tätig, andere Vereinsmitglieder auch in weiteren Teilen der Deutschschweiz. Wir schneiden für Landwirtschaftsbetriebe und stehen in engem Austausch mit Revierförstern, da auch viele Pappeln stark befallen und bedroht sind.

Mit welchen Geräten arbeiten Sie?

Apfelbäume schneiden wir meist mit Leitern und Teleskopstangen vom Boden aus, gelegentlich wird auch geklettert. Bei hohen Pappeln kommt unsere Hebebühne zum Einsatz.

Wenn die Misteln vom Baum sind, wie geht die Arbeit weiter?

Die Misteln werden während der Adventszeit geschnitten, sortiert, gereinigt und als Weihnachtsdekoration in den Handel gebracht. Werden sie zu gesundheitlichen Zwecken geerntet, trank», erfolgt dies unter Einbezug des etwa für Misteltee oder einen «Zauber-Mondkalenders.

Wo werden die Misteln verkauft?

Wir haben einen langjährigen privaten und gewerblichen Kundenstamm und verkaufen auch an den Grosshandel. Leider wird der Markt zunehmend von ausländischen Misteln zu Dumpingpreisen überschwemmt. Unser Verein sensibilisiert deshalb den Detailhandel, einheimische Misteln zu bevorzugen. Hingegen bin ich der Meinung, dass ein Mistelzweig für alle erschwinglich sein soll.

Was interessiert Sie an dieser mystischen Pflanze?

So ziemlich alles – von den griechischen Sagen aus der Antike über die Druiden mit ihrem Zaubertrank bis hin zu den medizinischen Inhaltsstoffen, die seit über 100 Jahren von der anthroposophischen Krebsmedizin erforscht werden. Auch botanisch ist die Mistel eine Wundertüte. Sie kennt kein Oben und kein Unten, richtet sich nicht nach der Sonne, bildet ihre Früchte im Winter und lebt in einer Art Symbiose mit ihrem Wirtsträger. Ebenso liess sich beobachten, dass zugewachsene Apfelbäume nach der «Entmistelung» in neuer Vitalität erstrahlten und in den Folgejahren wieder reichlich Früchte brachten. Über allem aber steht die Erinnerung an meinen Bruder – die beinahe zwanzig Winter, die wir gemeinsam in den Bäumen verbracht haben.

www.schweizermisteln.ch

 

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