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Landleben

Die «Schö-wüeschte» und andere Gestalten

Das Silvesterchlausen ist in vielen Appenzell Ausserrhoder Gemeinden der eindrücklichste Winterbrauch. Am 31. Dezember und am Alten Silvester, dem 13. Januar, wird jeweils gechlaust. Das Silvesterchlausen gilt als Teil des immateriellen Kulturerbes der Schweiz.

Die «Schö-wüeschte» – mancherorts auch Natur- und Waldchläuse genannt – sind eine Mischung der "Schöne" und "Wüeschte" Chläuse.

Die «Schö-wüeschte» – mancherorts auch Natur- und Waldchläuse genannt – sind eine Mischung der "Schöne" und "Wüeschte" Chläuse.

(Urs Oskar Keller)

Publiziert am

Journalist und Fotograf BR

Im Restaurant Schönau hoch über Urnäsch sind am Silvestermorgen um sechs Uhr die Chläuse los. Im traditionsreichen «Chlausenest» ist es warm und stickig. Es wird gezauert, getrunken, und es herrscht ein nervöses Kommen und Gehen. Draussen stapfen wüste, schön-wüste und schöne Chläuse durch den Schnee in alle Himmelsrichtungen zu den Höfen und Häusern (es gibt über 250 Silvesterchläuse in Urnäsch). Hinter den Larven sind heute, wie in allen Gruppierungen, Menschen aller Berufsgattungen anzutreffen.

Es ist kalt auf der Schönau auf fast 1000 m ü. M., und die zahlreichen Schaulustigen – Einheimische und Touristen – stehen herum. Einige mit einem Kafi Schnaps in der Hand scheinen ganz entzückt zu sein über das Treiben der sonderbaren Gestalten mit schweren Schellen, Tannenreisig-Hüten und auch furchteinflössenden Larven. Hier oben hat es Landschaft zwischen den Siedlungen. In der Ferne hört man zahlreiche Schellen wie von einer Herde weidender Kühe. Doch heute werden sie von Chläusen getragen.

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Die Wüeschte tragen Naturmaterialien.

(Urs Oskar Keller)

«Mein kürzlich verstorbener Mann und ich waren von den Silvesterchläusen in Urnäsch immer verzaubert», erzählt Joan Sindall (80), aus Cambridge bei Boston in den USA, während ihres Besuches auf dem Gäbris. «Ich konnte mir nicht vorstellen, was in aller Welt diese Leute da taten. Es war faszinierend und wunderschön.»

In Urnäsch wird Brauchtum gepflegt

In der Gemeinde Urnäsch am Fusse des Säntis (2338 Einwohner, 79 Bauernhöfe, 48 km2 Fläche) wird Brauchtum gepflegt. War das bunte und laute Treiben ursprünglich ein Brauch für die örtliche Bevölkerung, ist es längst zu einem grossen Touristenspektakel geworden. Heute kommen Reisebusse mit Touristen angerollt. «Tausende säumen jeweils die Strassen, wie wenn sie auf einen Umzug warten würden», berichtet Walter Frick, Kurator des Appenzeller Brauchtumsmuseums. Sämtliche Restaurants sind bis in die späte Nacht geöffnet, wo man regionale Spezialitäten bekommt und auf den Besuch der Schuppel wartet.

In Urnäsch sind Kunst und Kultur förmlich greifbar. Das Silvesterchlausen gilt als Teil des immateriellen Kulturerbes der Schweiz. 228 bedeutende Formen lebendiger Traditionen umfasst nun die Liste des Schweizer Kulturerbes. Das Silvesterchlausen ist in den Gemeinden des Appenzeller Hinterlands und – Trogen ausgenommen – des Appenzeller Mittellands der eindrücklichste Winterbrauch.

«Ich kenne diesen urtümlichen Brauch sehr gut. Früher waren wir oft in Urnäsch, jedoch hat es uns mittlerweile allzu viele Zuschauer dort», sagt eine alte Ostschweizerin aus Herisau. «Am besten gefallen mir immer die sogenannten ‹wüeschten› Chläuse mit ihren wilden Naturkostümen. Zu Zeiten meiner Urgrossmutter trafen sie schon am frühen Morgen ein. Man wickelte einen ‹Batzen› in Papier ein und zündete dieses an, damit sie sahen, wohin das Geld in den Schnee fiel.»

«Die Silvesternacht ruft nach Ausdauer, Schaumwein und Feuerwerk, der Silvestertag nach warmer Kleidung, interessierten Augen und offenen Ohren – im Appenzellerland gehört der Silvester ja traditionell den Silvesterchläusen», sagt Walter «Wälti» Frick (63) vom Brauchtumsmuseum in Urnäsch. Er ist seit 58 Jahren im Waisenhaus-Schuppel aktiv und einer der ältesten Silvesterchläuse im Appenzellerland.

Brauchherkunft ist unbekannt

Niemand weiss genau, woher der Brauch kommt. Erstmals wird das Chlausen 1663 schriftlich erwähnt. Und dennoch berührt der Brauch alljährlich am 31. Dezember und am 13. Januar viele Menschen aller Altersgruppen im Appenzellerland und darüber hinaus. Das Silvesterchlausen fügt sich ein in die traditionellen Lärmumzüge um die Jahreswende. Es geht sicher auch um das «Ausschellen» des alten Jahres. Sobald aber Deutungen in Richtung «altheidnisch», Fruchtbarkeit oder Dämonenvertreiben ins Spiel kommen, ist grosse Vorsicht geboten. Diesbezüglich wurde schon so viel spekuliert und geschrieben, dass die Brauchträger davon nicht unbeeinflusst geblieben sind. Beweisen lässt sich wenig, sagt ein Volkskundler.

Keine aktive Chläusin bekannt

Heute unterscheidet man mehr oder weniger deutlich drei Arten von Chläusen (siehe Kasten): die «Wüeschte», die «Schöne» und die «Schö-wüeschte». Sie treten alle fast ausschliesslich in Gruppen auf, «Schuppel» nennt sie der Einheimische. Die einen tragen eine oder zwei Schellen und stellen «Mannevölcher» dar. Man nennt sie noch häufiger nach ihrem Instrument «Schelli» oder «Schellenchlaus». Die anderen sind die «Rollewiiber» oder «Rolli» mit einem Rollenträger um den Oberkörper. Obwohl die Rollenweiber eindeutig weibliche Kleidung tragen, versteckt sich unter der Maskerade ein Bursche. Das Chlausen ist ein ausgesprochener Männerbrauch, nur bei den «Goofeschüppeli» machen hie und da auch Mädchen mit. «Mir ist zurzeit keine aktive Chläusin bekannt», sagt Historiker und Chlausen-Forscher Johannes Schläpfer. Er gab 2023 das Buch «Silvesterchlausen: geächtet – geduldet – gefördert» heraus.

Das Chlausen ist ein ausgesprochener Männerbrauch.

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Auf dem Kopf der Schö-wüeschte sind geschnitzte Figuren oder ausgestopfte Tiere zu entdecken. 

(Urs Oskar Keller)

Beliebtester Brauch

Im Appenzeller Hinterland sowie in Teufen und Speicher wird Silvester gleich zweimal auf einmalige Weise gefeiert. Das erste Mal sind die prächtig kostümierten Silvesterchläuse mit ihren schweren Schellen und Rollen (runde Schellen) am 31. Dezember unterwegs. Das zweite Mal am 13. Januar, dem Alten Silvester nach Julianischem Kalender. Gruppenweise ziehen die Chläuse von Haus zu Haus, voran der «Vorrolli», in der Mitte schön hintereinander die «Schelli» und am Schluss der «Noerolli» (Nachrolli). Vor einem Haus stellen sie sich im Kreis auf, schellen und rollen nach einer überlieferten Choreografie und stimmen ein Zäuerli (Naturjodel) an. Das wiederholt sich einige Male. Dann wünschen die Chläuse dem Hausherrn und seiner Familie ein gutes neues Jahr, erhalten ein Geldgeschenk und etwas zu trinken und ziehen zum nächsten Haus. «Vor allem der musikalische Kontrast zwischen den archaischen Schellenklängen und den fein abgestimmten Chlausezäuerli macht das Silvesterchlausen zum wohl beliebtesten aller Appenzeller Bräuche», sagt Roland Inauen, Volkskundler und Landammann aus Appenzell. 

Information: Appenzeller Brauchtumsmuseum Urnäsch, info@museum-urnaesch.ch, www.museum-urnaesch.ch

Die Chlaustypen

Die «Schöne»

Die «Schöne» gibt es seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie tragen farbige, samtene Kleidung (Hosen oder Röcke) und über dem Gesicht eine einfache Larve mit roten Wangen. Auf dem Kopf thront ein grosser, flacher Hut oder eine geschweifte Haube. Alles zieren Tausende Glasperlen.

Ein Schuppel von «schöne Chläus» besteht meist aus sechs bis zehn Männern, zwei bis drei «Rolli», der Rest «Schelli». Die «Rolli» tragen Frauenkleidung und eine gewaltige, radförmige Haube. Die «Schelli» tragen rechteckige Hüte und auf Rücken und Brust je eine «Chlauseschelle». Ihr Gang ist elegant.

Die «Wüeschte»

Bei den «Wüeschte» handelt es sich um die ursprüngliche Art. Sie tragen furchterregende Larven und mit Heu, Stroh, Tannenreisig und anderen Naturmaterialien besteckte Kleider.

Die «Schö-wüeschte»

Die «Schö-wüeschte», auch Natur- und Waldchläuse genannt, sind eine Mischung der beiden vorhergehenden. Sie tragen Naturmaterialien, die in kunstvollen Mustern arrangiert sind. Auf dem Kopf sind wie bei den «Schöne» ebenfalls geschnitzte Figuren oder ausgestopfte Tiere zu entdecken. Allen Chläusen gemeinsam sind die Schellen und Rollen, die sie in verschiedenen Formen und Grössen am Körper tragen.

Für ihren «Groscht» (Larve und Kleid) verwenden sie gleich den «Wüeschte» Naturmaterialien. Alles ist aber verziert mit Ornamenten aus Beeren, Tannzapfenschuppen, Moos oder Schneckenhäuschen. Mäntel und Hüte sind wie bei den «Schöne» dekorativ gestaltet.

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"Schö-wüeschti-Chläuse" vom "Urstee-Schuppel».

(Marlen Frick)
Bettelchläuse (bis ca. 1950)

Das Chlausen wurde schon vor Jahrhunderten mit Betteln in Verbindung gebracht. Die hüpfenden, tanzenden und lärmenden Gestalten hiessen Bettelchläuse. Gemeint waren jene, die tagsüber ein ordentliches Sümmchen von 200 bis 400 Franken erchlaust hatten. Gerade in Zeiten von Armut und Hunger war das Chlausen ein Weg, um für die Familie einen Zustupf zu verdienen.

Spasschläuse

Mit Spass- oder Nachtchläusen sind ursprünglich alle am Abend herumziehenden Silvesterchläuse gemeint. Ihr Hauptziel war, Lärm und Jux zu machen, was mit der Zeit auszuarten drohte.

Heimatschutzchläuse

Auf Initiative des Heimatschutzes Appenzell Ausserrhoden gingen 1927 in Herisau acht Realschüler chlausen. Dazu trugen sie über die Knie reichende weisse, geringfügig verzierte Hemden, eine Spitzkappe sowie über die Schultern gekreuzte Rollen- und Schellenriemen. Die Heimatschutzchläuse waren bis zum Chlausverbot 1938 (aufgrund der Maul- und Klauenseuche) jährlich unterwegs und sammelten zugunsten gemeinnütziger Institutionen Geld.

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