Als Reinhard-Laurenz Schmid 1859 im kleinen Bauerndorf Basadingen (TG) zur Welt kam, zählte die Schweiz 2,4 Millionen Einwohner. «Aus Grossvaters Leben ist nur Bruchstückhaftes überliefert, das meiste kennen wir vom Hörensagen. Anfänglich wollte er Hufschmied werden, entschied sich dann aber für das Metzgerhandwerk, obwohl das damals kein Lehrberuf war», schreibt Hubertus Schmid, Jahrgang 1943, in seinem Buch «Metzger, Bauern, Wirte. Eine Spurensuche bei der Familie Schmid in Basadingen».
Weshalb Reinhard Schmid Metzger wurde, ist nicht bekannt. «Vielleicht tat er es, um dem Hunger zu entfliehen, denn die Lebensverhältnisse waren Ende des 19. Jahrhunderts schlimm», schreibt Hubertus Schmid. Tausende meist junger Menschen suchten ihr Glück daher im Ausland. Ein beliebtes Ziel der Schweizer Wirtschaftsflüchtlinge waren die Vereinigten Staaten. «So muss», schreibt der Enkel, «in den 1880er-Jahren auch bei Grossvater Reinhard der Entscheid gereift sein, dem Thurgau den Rücken zu kehren. Er suchte allerdings sein Glück nicht in den USA, sondern im Churer Rheintal.»
Vielleicht tat er es, um dem Hunger zu entfliehen.
Durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes im Kanton Graubünden entstand im Engadin ein Tourismus- und Hotelbauboom. Aufgrund starker Zuwanderung erfuhren auch das Gastgewerbe und die Lebensmittelhersteller rasanten Aufschwung. Für Reinhard Schmid bestanden hier ungleich bessere Erwerbschancen als im Thurgau. Im Alter von 25 Jahren liess er sich 1884 in Chur nieder.
Reinhards erste Station in Chur war Metzgermeister Eisinger, wo er als einfacher Metzgerbursche wirkte. Doch schon 1888 machte er sich selbstständig und eröffnete in der Planaterra am Untertor von Chur sein eigenes Geschäft. 1887 heiratete er seine aus Ossingen (ZH) stammende Verlobte, Hermine Müller. Wie kam der Metzger Schmid nun aber dazu, getrocknetes Fleisch zu verkaufen?
Alles begann in Parpan
Alles begann beim Bauern Engelhard Brügger in Parpan (GR), der schon seit Längerem für andere Landwirte Schweinefleisch auf der offenen, vor Regen geschützten Dachterrasse seines Hauses trocknete. Rindfleisch kam aber dafür nicht infrage, weil Kühe als Milchlieferanten und Zugtiere zu wertvoll waren. Das Austrocknen und die bakterizide Wirkung der Sonne ermöglichten eine lange Haltbarkeit des Fleisches. In Parpan waren die Voraussetzungen zur Herstellung von Trockenfleisch ideal; dank seiner Nord-Süd-Öffnung ist das Tal für die natürliche Lufttrocknung geradezu prädestiniert.
Hubertus Schmid: «1892 erhielt der Bauer Engelhard Brügger Besuch von meinem Grossvater aus Chur, der bei ihm getrocknetes Fleisch vom Rind zu kaufen begehrte.» Brügger lehnte ab, denn das Risiko, auf eigene Rechnung teures Rindfleisch zu trocknen, war für ihn zu gross. «Eine Woche nach dem abschlägigen Bescheid rückte Grossvater wieder in Parpan an; diesmal aber mit 50 Kilo gutem Kuhfleisch im Gepäck» meint Schmid. Brügger wurde angehalten, auf Schmids Rechnung Rindfleisch zu trocknen. Weil die Nachfrage der Churer nach Bindenfleisch rasch zunahm, wurde Brügger bald einmal zu Schmids hauptberuflichem Lohn-Trockner und Mitbegründer der professionellen Fleischtrocknerei. So entstand zum Ende des 19. Jahrhunderts erstmals ein Markt für Bündnerfleisch. Brüggers Sohn Engelhard gründete 1924 an der Hauptstrasse nach Churwalden eine eigene Fleischtrocknerei, die bis 1963 ausschliesslich für Schmids vier Söhne, die Metzger Reinhard in Chur, Eugen in Luzern, Paul in St. Gallen sowie Luzi Schmid in Weinfelden, tätig war. Die vier Söhne von Reinhard-Laurenz Schmid sollten später ermuntert werden, weitere Bündnerspezialitäten wie Rohschinken, Coppa, Salsize, Beinwurst und Engadiner Hauswurst in ihren Geschäften in Chur, Luzern, St. Gallen und Weinfelden zu verkaufen. Sie alle setzten auf die Marke «Bündnerspezialitäten».
Vor über 50 Jahren übernahm Jörg Brügger (1934 –2004) den Trocknungsbetrieb. Die vor 130 Jahren begonnene Tradition führen Jörg und Marlène Brügger heute in vierter Generation weiter. Reinhard Schmid verstarb am 26. August 1927.
Was echtes Bündnerfleisch ausmacht
«Für echtes Bündnerfleisch», sagt Fleischveredler Jörg Brügger, «werden nur erstklassige Fleischstücke vom Rind verwendet. Nach sorgfältigem Entfernen von Fett und Sehnen werden die Rohbinden mit einer Mischung aus Salz und Bio-Gewürzen eingerieben und in grossen Behältern zwischen einer und drei Wochen kühl gelagert.» Nach dieser sogenannten Pökelung wird das Fleisch zunächst an der frischen Luft auf dem Balkon während einer Woche angetrocknet. Danach kommen die Fleischstücke in die Trocknungsräume.
Die Luftfeuchtigkeit wird hier mit dem Öffnen oder Schliessen der Fenster reguliert. Die leicht angetrockneten Fleischstücke werden anschliessend in regelmässigen Abständen mehrmals gepresst. Dies bewirkt einerseits eine gleichmässige Verteilung der im Fleisch vorhandenen Flüssigkeit und verleiht dem Bündnerfleisch ausserdem die charakteristische Form. In den rund 10 bis 20 Wochen Trocknungszeit wird jedes Fleischstück etwa 60 bis 70 Mal in die Hand genommen, kontrolliert und bearbeitet – ein arbeitsaufwendiger Prozess. Der Gewichtsverlust während des Trocknens beträgt rund 50 Prozent. Der Name «Bündnerfleisch» ist zudem geschützt. Er garantiert, dass das Fleisch in Graubünden veredelt wird. Als einer der letzten stellt Jörg Brügger in Parpan diese Spezialität noch im traditionellen naturluftgetrockneten Verfahren her.
Jedes Fleischstück wird 60 bis 70 Mal in die Hand genommen.
Wer hat’s erfunden?
Erste schriftliche Erwähnungen zum Bündnerfleisch finden sich ab dem 18. Jahrhundert in Berichten deutscher Reiseschriftsteller, die in Graubünden unterwegs waren. So schreibt Johann Gottfried Ebel in seiner im Jahr 1793 erschienenen «Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen»: «Die Luft ist so trocken, dass von Sils bis St. Moritz hinab vom Monat October bis Merz alles Fleisch nicht im Rauch, sondern an der Luft gedörrt wird.» Im ganzen Alpenraum war dieses Verfahren bekannt. Auch heute ist getrocknetes Fleisch beliebt. Das berühmte Bündnerfleisch, auch Bindenfleisch genannt, ist dabei aber stets aus Rindfleisch hergestellt. Ein Diplom an der Schweizerischen Landesausstellung 1914 dokumentiert den Erfolg von Metzgermeister Schmid und Fleischveredler Brügger, die als erste gewerbliche Hersteller von Bündnerfleisch im Kanton Graubünden gelten.
Das Bündnerfleisch und die Medizin
Das Engadin hat mit Oscar Bernhard (1861–1939) einen grossen Mediziner hervorgebracht. Der Alpenarzt aus Samedan (GR) ist Begründer der Sonnenlichttherapie. Die Idee dazu holte er sich bei der Trockenfleischherstellung: Das Austrocknen und die bakterizide Wirkung der Sonne ermöglichen die lange Haltbarkeit von Bündnerfleisch. Dieses Prinzip
funktionierte auch beim Menschen. «Nach einem ersten Versuch bei einer infizierten und schlecht heilenden Bauchwunde behandelte Bernhard mit Sonnenlicht auch Patienten mit Fisteln, tuberkulösen Geschwüren und – nach Erfolgen bei Letzteren – schliesslich sogar die geschlossene Knochentuberkulose», berichtete die Neue Zürcher Zeitung (2011).